Cover
Titel
Theophrastus, Characters. Edited with introduction, translation and commentary


Herausgeber
Diggle, James
Reihe
Cambridge classical texts and commentaries 43
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 600 S.
Preis
£80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Theophrasts "Charaktere" waren von Anfang an für Irritationen gut. Der wohl bekannteste Text des frühen Peripatetikers entzieht sich den gängigen Kategorien. Schon der Titel wird zum Stolperstein ("something like Behavioural Types or Distinctive Marks of Character", so Diggle S. 5). Einen Ahnherrn hat das Werk immerhin: die Charakterstenogramme in Aristoteles' ethischen und rhetorischen Schriften. Doch wo Aristoteles sich mit abstrakten und fast blutleeren Schlagworten zufrieden gibt (z.B. den Eigenschaften 'Feigheit', 'Tapferkeit' und 'Übermut', korrespondierend mit den drei Aggregatszuständen Mangel, Maß und Übermaß), zeichnet und überzeichnet Theophrast Menschen aus Fleisch und Blut, die nicht selten der komischen Bühne entstiegen scheinen (Theophrasts zweitem Inspirationsquell), und schenkt ihnen einen Sitz im Leben - das Athen des ausgehenden 4. Jahrhunderts v.Chr. Warum aber hat Theophrast diese so originellen wie amüsanten Skizzen verfasst? Die beste Erklärung stammt von Pasquali (dem Diggle zu Recht beipflichtet): Sie waren für Theophrasts Ethik-Vorlesungen bestimmt, als theatralische Einlagen, die unterhalten und zugleich illustrieren und belehren sollten. An eine Publikation war ursprünglich wohl kaum gedacht; womöglich wurden die Texte erst postum zusammengestellt und veröffentlicht.

Diese These erklärt auch am ehesten den deplorablen Zustand des überlieferten Textes und die Leichtigkeit, mit der sich offenbar schon früh allerlei fremdes Gut angelagert hat: das Proöm (von Theophrast angeblich an der Schwelle zum 100. Lebensjahr verfasst), die spröden Wortdefinitionen vor den einzelnen Skizzen, etliche Zusätze innerhalb der Texte und einige moralinsaure Nachworte. Wechselhaft war auch das Geschick der "Charaktere" in den Händen der neuzeitlichen Philologie. Erst 1897, mit der so genannten Leipziger Ausgabe ("herausgegeben, erklärt und übersetzt von der philologischen Gesellschaft zu Leipzig"), stand der Text der "Charaktere" auf einem verlässlichen wissenschaftlichen Fundament. Manchen Fortschritt brachten u.a. Diels' Oxforder Ausgabe (1909) und der neue Loeb-Text von J. Rusten (1993). In der Sacherklärung erwarben sich vor allem R. C. Jebb (1870) und R. G. Ussher (1960) Lorbeeren. Doch wie vieles noch im Argen lag, sprachlich wie sachlich, war jedem klar, der sich mit dem kleinen Werk einmal eingehender befasst hat.

Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, dass mit Diggles Text eine neue Ära anbricht, ähnlich wie vor vier Jahrhunderten mit den für ihre Zeit epochalen Ausgaben Casaubons (1592-1612). Ein konkurrenzloser Einblick in die Geschichte der Textüberlieferung (einschließlich des Herculanenser Papyrus 1457), wie kein früherer Editor ihn besaß, gepaart mit einer souveränen Beherrschung des Griechischen (Diggles große Neuausgabe des Euripides hat sie hinlänglich unter Beweis gestellt), eine seltene Belesenheit in den Quellen und der älteren wie neueren Sekundärliteratur zur Antike und nicht zuletzt eine Ader für Stil, Denkart und Humor des Philosophen aus Lesbos haben sich in einer Ausgabe materialisiert, die für die kommenden Jahrzehnte zur Richtschnur werden wird.

Uneingeschränktes Lob verdient der schnörkellos lesbare Text. Dem Leser ergeht es wie vor einem uralten Gemälde, das sorgfältig von Schmutz, Patina und Übermalungen gereinigt wurde und sich mit einem Male in frischem Glanz präsentiert. Wie sehr der Cambridger Gelehrte mit dem Text gerungen hat, belegt schon der Apparat; kaum eine Seite, die keine neuen Konjekturen Diggles verzeichnete; und nicht wenige von ihnen sind von schlagender Evidenz (z.B. die kleine Umstellung S. 76,23f., die den stockenden Fluss der Geschichte wieder in Gang bringt, oder S. 118,9 das treffende phtheiródeis). Eine willkommene Dreingabe ist die Übersetzung zur Rechten des Textes; sie gibt sich nüchtern und pragmatisch und folgt dem Original mit eleganter Geschmeidigkeit und hoher Verlässlichkeit.

Der Kommentar schließlich (360 Seiten für kaum einmal 40 Seiten griechischen Texts) ist ein philologisches Schwergewicht. Keine sprachliche oder syntaktische Frage, die Diggle nicht mit Umsicht behandelte (wobei er die bewährten Standardwerke der Gräzistik behutsam korrigiert und ergänzt, so in dem 'homerischen Iterativ' "unnoticed by LSJ"). Kleine Glanzlichter sind seine pointierten Wortgeschichten und lexikalischen Feldstudien, etwa zum eíron (S. 166f.) oder zum deisidaímon (S. 349-351). Doch weit über den philologischen Horizont hinaus ist Diggle um Antworten selten verlegen. Ob es um thrakische Sklavennamen geht oder das attische Zinsrecht, um die Vierstreifennatter oder knifflige Fragen des frühhellenistischen Kalenders - dank seiner stupenden Belesenheit bringt er Licht in ungezählte schwierige Passagen. Und mit Vergnügen nimmt man zur Kenntnis, dass er - getreu einer alten angelsächsischen Tradition - gerne illuminierend aus modernen Klassikern zitiert: nicht allein aus Shakespeare, Blake, Dickens, sondern auch einem Volpone (S. 355) oder Ibsens "Hedda Gabler" (S. 250).

Gleichwohl lässt gerade (und wohlgemerkt nur) der Kommentar auch ein leichtes Gefühl der Enttäuschung aufkommen. Das liegt mitnichten an gelegentlichen kleinen Lücken. Zu char. 10,6 gehört etwa ein Hinweis auf Petron 43,1 paratus fuit quadrantem de stercore mordicus tollere. Die Tirade gegen das weibliche Geschlecht, mit der sich in char. 12,6 ein Gast auf einer Hochzeitsfeier beliebt macht, ist mit der zitierten Lukianstelle kaum erhellt; illustrativer wären beispielsweise Semonides oder Juvenal 6. Zu dem Wiesel, das in char. 16,3 den Abergläubischen erschreckt, gehört unbedingt die in ein Wiesel verzauberte Hexe bei Apuleius met. 2,25. Noch eine pedantische Fußnote: Bei der botanischen und zoologischen Nomenklatur optiert Diggle nicht immer, aber oft genug für die Kleinschreibung (z.B. S. 388 pediculus capitis); verbindlich ist aber Groß und klein (also Pediculus capitis, vulgo die Kopflaus).

In dem dichten Geflecht der Erläuterungen gibt es blinde Stellen, die man kaum erwartet hätte. Drei Beispiele: Vom "Schwätzer" heißt es, "als erstes" singe er gänzlich Unbekannten "ein Loblied auf seine Frau" (char. 3,2). Wer Aristophanes gelesen hat oder die netten Anekdoten über Sokrates und Xanthippe, wäre eher auf das Gegenteil gefasst. In Char. 5,5 lesen wir eine sozialhistorisch aufschlussreiche Szene, wie der "Kriecher" beim Gastmahl mit den Kindern des Hausherrn herumalbert. Und in char. 11,2 entblößt sich ein Exhibitionist vor Damen der besseren Gesellschaft. Exhibitionismus? Kinder beim Gastmahl? Ein Enkomium auf die bessere Hälfte? In allen drei Fällen wird man bei Diggle vergebens ein Wort der Erklärung suchen. Die Kehrseite der Medaille sind jene nicht seltenen Passagen, wo den Kommentar ein wild gewordener Zettelkasten ersetzt. Zu Sabazios beispielsweise führt Diggle S. 356 insgesamt 19 Titel Sekundärliteratur an (von höchst durchwachsener Qualität im Übrigen), verliert aber kein einziges Wort über jenen rätselhaften Gott aus dem fernen Norden. Wie gerne läse man stattdessen eine kurze Charakterisierung und dankte für zwei, drei Perlen aus der Überfülle moderner Publikationen.

Genug davon. Das Entscheidende bleibt - wir verdanken Diggle eine grandiose neue Ausgabe eines Kleinods hellenistischer Literatur. An diesem Text, an diesem Kommentar führt fürder kein Weg vorbei.

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